Orientierungshilfe zur Prognose und Steuerung des Wachstums von Fichten (Picea abies (L.) Karst.) und Tannen (Abies alba Mill.) in Überführungswäldern mit Hilfe der relativen Kronenlänge
Das Ziel der vorliegenden waldwachstumskundlichen Untersuchung besteht (1) in der Abschätzung des Wachstumspotentials von stark freigestellten, bisher weniger wüchsigen Bäumen in Überführungswäldern und (2) der Herleitung (v.a. der methodischen Grundlagen) einer Orientierungshilfe zur Steuerung des Wachstum von Fichten und Tannen mit Hilfe der relativen Kronenlänge. Mit der Orientierungshilfe sollen quantitative Hinweise zur erforderlichen relativen Kronenlänge, die für einen bestimmten angestrebten Durchmesserzuwachs notwendig ist, gegeben werden. Zur Steuerung der Kronenlänge dient die Abstandsregel, mit der Mindestfreistellungsradien, die der Krone die erforderliche horizontale und vertikale Expansion ermöglichen, in Form von Tabellen angegeben werden. In einer Literaturauswertung wird der Stand der Waldwachstumsforschung in Überführungswäldern in zentralen Forschungsfeldern aufgezeigt. Insbesondere wird auf die Bedeutung der relativen Kronenlänge als einzelbaumbezogener allometrischer Größe zur Einschätzung des Wachstumspotentials von Nadelbäumen eingegangen. Für die Untersuchung der Abhängigkeit des Durchmesserzuwachses von verschiedenen Kronendimensionsgrößen und der Zusammenhänge zwischen Durchmesserzuwachs und Konkurrenz kommt eine explorative Datenanalysestrategie zur Anwendung. An temporären Stichprobenpunkten werden dazu Fichten und Tannen mit einer weiten Spanne relativer Kronenlängen und unterschiedlicher Konkurrenzverhältnisse ausgewählt. Zur Bestimmung der Veränderung der Kronenansatzhöhe wird eine Methode zur Datierung des Astabsterbezeitpunktes von Totästen verwendet. Dazu wird die Analyse von Totastquirlen in das Stammanalyseverfahren integriert. Zur Herleitung der Orientierungshilfe wird ein einfaches dreidimensionales Konkurrenzmodell entwickelt, das auf das Konzept der "beschattenden Biomasse" von Kellomäki et al. (1980) aufbaut. Die Eingangsgrößen für die Orientierungshilfe sind dabei altersunabhängig. Die Untersuchungsbäume werden in Fichten-Tannen-Mischbeständen aus submontanen bis hochmontanen Höhenlagen des Schwarzwaldes und einem Fichtenbestand im Odenwald gewonnen. Die Auswahl beschränkt sich auf Bestände mit einer größeren Altersspreitung auf nicht sturmwurfgefährdeten Standorten, in Gebieten, in denen eine Überführung in ungleichaltrige stukturierte Mischbestände (respektive Plenterwald) in den kommenden Jahrzehnten realistisch erscheint. Die meisten der untersuchten Bäume sind in der Lage, auch in fortgeschrittenem Entwicklungsstadium in ihrem Radialzuwachs auf Freistellung zu reagieren. Die freigestellten Bäume holen im Zuwachs gegenüber vorherrschenden Bäumen auf. Das Ausmaß der Zuwachsreaktion hängt auch vom Entwicklungszustand der Bäume ab. Der Entwicklungszustand läßt sich mit der relativen Kronenlänge und dem Durchmesser charakterisieren, wobei der Durchmesser nur einen geringen Einfluß auf die Beziehung relative Kronenlänge-Durchmesserzuwachs hat. Generell sind physiologisch jüngere Bäume zuwachskräftiger als physiologisch ältere. Die Indikatorfunktion der relativen Kronenlänge hinsichtlich der Konkurrenz, die ein Baum in der Vergangenheit erfahren hat, sowie des zukünftigen Wachstumspotentials, kann anhand des untersuchten Materials gestützt werden. Langkronige Bäume erweisen sich als wesentlich zuwachsdräftiger als kurzkronige Bäume. In ungleichaltrigen, vertikal strukturierten Beständen können Klassen relativer Kronenlänge - analog den sozialen Klassen in gleichaltrigen homogenen Beständen - als Klassifizierungsgrößen von Bäumen dienenen. Bei der Beschreibung der Konkurrenz in den untersuchten temporären Probeflächen zeigt sich, daß einfache Größenverhältnis-Indices (Berücksichtigung von Abstand und Dimension der Nachbarbäume) den Kronenkonkurrenz-Indices (Berücksichtigung von Kronenmerkmalen der Nachbarbäume wie Kronenquerschnittsfläche oder Kronenmantelfläche) überlegen sind. Die Kronenansatzveränderung hängt vom Höhenzuwachs und von der Konkurrenz ab. Stärker konkurrenzierte Bäume zeigen einen beschleunigten Kronenansatzrückgang. In einem multiplen Regressionsmodell wird die Abhängigkeit des Durchmesserzuwachses von der relativen Kronenlänge und von der aktuellen Konkurrenz aufgezeigt. Die Orientierungshilfe zur Steuerung des Wachstums mit Hilfe der relativen Kronenlänge besteht aus einer Kronenregel und einer Abstandsregel. Die Kronenregel gibt an, welche relative Kronenlänge notwendig ist, um einen bestimmten Durchmesserzuwachs aufrechtzuerhalten. Die Abstandsregel enthält Mindestentfernungen zu Konkurrenzbäumen einer bestimmten Vitalität, die im Planungsjahrzehnt nicht unterschritten werden dürfen, wenn eine bestimmte relative Kronenlänge erhalten bleiben soll. Das Tabellenwerk besteht aus Tabellen zum isometrischen Wachstum sowie positiv allometrischen Wachstum der relativen Kronenlänge. Die Regeln gelten strenggenommen nur für die untersuchten Baumkollektive; bei einer Anwendung sind der Gültigkeitsbereich genau zu beachten und Extrapolationen zu vermeiden. Die untersuchten tannen benötigen für die Aufrechterhaltung eines bestimmten Durchmesserzuwachses im Durchschnitt des untersuchten Zeitraumes der letzten 20 Jahre eine geringere relative Kronenlänge als die Fichten. Die für einen bestimmten Durchmesserzuwachs erforderlichen relativen Kronenlängen machen jedoch bei der Tanne eine größere Standraumerweiterung notwendig als bei der Fichte. Weitere Untersuchungen zur Verifizierung dieser quantitativen Hinweise, v.a. an umfangreicherem Material und in anderen Wuchsregionen sind wünschenswert.