Die Höhenlage der Waldgrenze ist, wenn nicht orographische Verhältnisse dem Wald ein Ende setzen, weitgehend anthropogen bedingt. Historische Überlieferungen und Beobachtungen, im einzelnen bereits erwähnt, geben uns die Gewißheit, daß die Grenze geschlossener Bestände einmal höher gelegen haben muß und durch den Einfluß des Menschen herabgedrückt worden ist. Heute liegt sie wohl überall unter der klimatisch möglichen Grenze, wie es die erfolgreichen Aufforstungsversuche hoch über der heutigen Waldgrenze (Val Zuondra bei 2.400 m, oberhalb von Pontresina auf dem Schafberg bis 2.500 m u.a.m.) es zu beweisen scheinen. Die vielgestaltige und wechselvolle Physiognomie der Waldgrenze im Oberengadin - das topographische Verhalten, die geländeklimatische Differenzierung der Standorte, die Gestalt der Bäume - läßt uns das Phänomen Waldgrenze als ein Spiegelbild verwickelter ökologscher Wechselwirkungen zwischen Vegetation, Großklima, Lokalklima, Mikroklima, Relief, Tierwelt und wirtschaftendem Menschen erkennen. Die Waldgrenze des flachansteigenden NW-exponierten Hanges des Haupttales, wo der Wald, von orographischen Einflüssen nur relativ wenig beeinflußt in geschlossener Front seine obere Grenze erreicht: das kuppige, rundhöcker- und wannenreiche Trogschultergelände des Waldgrenzsaumes bewirkt durch seinen Einfluß auf die Verteilung der für die Vegetation in diesem Klima so wichtigen winterlichen Schneedecke, durch den kleinräumigen Wechsel von Luv- und Leelage, Strahlungsexposition und Schattenlage der Standorte eine intensive, geländeklimatische Differenzierung des Waldgrenzbereiches, die sich in der Physiognomie der Vegetation (Stufung und Zonierung der Zwergsträucher nach dem Grade ihrer Windhärte, Trockenresistenz und Schneeschutzbedürfnis, Eisgebläseschäden an exponierten Stellen, Pilzbefall an Standorten extremer Schneedeckendauer, Windformen der Bäume usw.) widerspiegelt. Diese physiognomisch-ökologische Waldgrenzsituation kommt dem Idealbild der klimatischen Waldgrenze am nächsten. Wir sollten aber bedenken, daß diese Kampfzone, die Übergangszone zwischen der Wald- und Baumgrenze, zwar klimatisch geprägt ist, in ihrer heutigen Ausdehnung aber nicht klimatisch bedingt ist.